Daniel Kehlmann - Tyll

Buchtitel: Tyll
Autor: Daniel Kehlmann
Jahrgang: 1975
Nationalität: D
Erscheinungsjahr: 2017
Verlag: Rowohlt
Seiten: 480

Europa Mitte des 17. Jahrhunderts: Friedrich Kurfürst von der Pfalz nimmt die ihm angebotene Krone von Böhmen an und löst damit den 30jährigen Krieg aus. Der Sturm wütet jahrzehntelang über den Kontinent, in Deutschland bleiben wenige Regionen verschont. Diese Szenerie bildet den Hintergrund zu Daniel Kehlmanns Roman «Tyll». Acht Kapitel zeichnen jeweils ein in sich geschlossenes Bild aus verschiedenen Stadien und sozialen Schichten des Krieges. Die Leserin verfolgt einen Hexenprozess, weilt am armseligen «Hof» des abgesetzten Winterkönigs Friedrich von Böhmen, ist unterwegs mit Gauklern, besucht den Schwedenkönig Gustav Adolf auf dem Schlachtfeld oder ist zusammen mit drei Mineuren eingeschlossen in den Schächten unter der belagerten Stadt Prag. In allen acht Szenen tritt Tyll Ulenspiegel, die legendenhafte Figur aus dem 14. Jahrhundert, auf – mal als Hauptfigur, mal nur am Rande – doch stets schonungslos ehrlich.
Sara

Pro
Der Tyll ist da, der Tyll Ulenspiegel kommt!, ruft die Menge zu Beginn des Romans, als eine dürre Gestalt im Narrenkostüm sich dem Dorf nähert. Ganz sicher sein kann sich der Leser aber nicht. Ist es wirklich Till Eulenspiegel (oder eben Tyll Ulenspiegel), der hier auftritt, oder ein Wiedergänger, der durch den Roman geistert?
Der neue Roman von Daniel Kehlmann ist voller Regen, Kälte und Hunger. Denn sein Thema ist nicht eigentlich die mythische Gestalt Eulenspiegels, sondern der 30-jährige Krieg, der im 17. Jahrhundert in Europa tobte. Das hätte ein schweres Buch werden können. Wurde es aber nicht. Mit leichter Hand hat Kehlmann ein grandioses Panoptikum einer vormodernen Welt gebastelt, in der der Tyll von Schauplatz zu Schauplatz tänzelt und den Figurenreigen zusammenhält: Wir treffen einen wissbegierigen Müller (der an Menocchio aus Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ erinnert), den Universalgelehrten Athanasius Kircher, die verarmte Winterkönigin Elisabeth Stuart. Und dann plötzlich taucht ein Drache auf, um gleich darauf zu sterben. Man kann das nicht nacherzählen, man muss das lesen.
Der Roman kommt ohne Jahreszahlen aus und ist doch ein historischer Roman. Anders als im Genre üblich liefert die Epoche aber nicht bloss die Kulisse. Kehlmann konfrontiert uns mit der Fremdheit einer vormodernen Welt. Keine modernen Konzepte verirren sich ins 17. Jahrhundert. Die Menschen hier sind noch traurig und nicht depressiv. Die Scherze sind derb und im Wald hausen Geisterwesen. Das ist sehr geistreich, häufig witzig, aber weniger klamaukig als „Die Vermessung der Welt“. Und über allem schwebt der Tyll auf seinem Seil. Fremd und voller Leben.
Heinz

Contra
Wohnwagen. Seiltanz. Akrobatenromanze. Die Zutaten zu einem einfachen Zirkusgroschenroman sind auch in Daniel Kehlmanns «Tyll» prominent vertreten. Darin geht es nur vordergründig um Till – oder eben Tyll – Eulenspiegel. Seine Figur bleibt im dunkeln Mittelalter stehen und führt trotz allen Einfällen und Klamaukversuchen nicht wirklich durch das Buch. Nach der Lektüre bleibt man rätselnd zurück, ob dies tatsächlich ein Roman um oder für den Eulenspiegel gewesen sein soll – oder ob Kehlmann nicht einfach eine Geschichte über den Dreissigjährigen Krieg begonnen hatte und irgendwann fand, mit einer – historisch-chronologisch übrigens unpassenden – heiteren Figur sei dies etwas aufzulockern. Manchmal gelingen ihm doch ganz passable Szenen, mehr noch Gefühlsbeschreibungen, wenn er wie aus einer erhabenen Seiltänzerposition das Geschehen auf einem mittelalterlichen Marktplatz plastisch schildert und einfängt, welche Emotionen eine damalige Gaukleraufführung in den Menschen ausgelöst hat. Leider überträgt sich diese Feinheit der Emotionsbeschreibung nicht auf die einzelnen Figuren, die den verschiedenen Abschnitten ihr Gepräge geben sollen. Der Versuch aus verschiedenen Sichtweisen zu beschreiben misslingt, weil alle letztlich immer das Gleiche sehen und sagen. Besonders störend sind diese gescheiterten Erzählperspektiven während dem immerhin halben Dutzend Längen, die das Buch beinhaltet. Dann erscheint Kehlmanns Barockwelt so ohne Geschmack und Esprit wie die neon-orange Leuchtschrift auf einem Gemälde von Goya; wobei der Autor zumindest diesen «layouterischen» Missgriff auf dem Buchumschlag wahrscheinlich nicht zu verantworten hat.
Markus