Julian Barnes – Die einzige Geschichte
Titel: Die einzige Geschichte
Autorin: Julian Barnes
Jahrgang: 1946
Nationalität: E
Erscheinungsdatum: 2019 (engl. Original 2018)
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seiten: 304
Hauptperson und Erzähler in Barnes’ Buch ist Paul, der mit 19 Jahren im Tennisclub die sehr viel ältere und verheiratete Susan kennen und lieben lernt. Anfangs, als Teenager, ist Paul von der Skandalösität der Beziehung beflügelt, ist sie doch ein Auflehnen gegen die vertrocknete mittelständische Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren. Die Liebe widersteht den gesellschaftlichen Normen, Paul und Susan richten sich ein gemeinsames Leben ein. Doch mit der Zeit treten Probleme an die Oberfläche: Susan kommt von ihrem Mann nicht ganz los, der Altersunterschied kommt zum Tragen und sie rutscht in die Alkoholsucht ab. Trotz den Herausforderungen bleibt Paul aber viele Jahre mit Susan zusammen und versucht, in der Beziehung sein Glück zu finden. Irgendwann kann er aber nicht mehr und verlässt sie. Doch vollständig klappt die Trennung nie – Susan ist und bleibt bis zu ihrem Tod die eine grosse Liebe seines Lebens.
Pro
Paul möchte ganz anders sein als die «Muldenhocker» im saturierten Londoner Vorort, wo im Tennisclub die «Hugos» und «Carolines» gemischtes Doppel spielen. Auf keinen Fall möchte er sein wie die Paare, die nur noch zusammen sind, weil sie ihre Plattensammlung nicht mehr aufteilen mögen. Seine Freundin Susan, verheiratet und 30 Jahre älter, nennt ihn Marko Paul. Wie Marco Polo überschreitet Paul die Grenzen seiner bekannten Welt. Julian Barnes hat dem Buch ein Zitat aus einem Wörterbuch zur englischen Sprache aus dem 18. Jahrhundert vorangestellt. «Roman: Eine kleine Geschichte, zumeist über die Liebe.» Das ist ein wunderbares Understatement, denn Barnes macht aus der kleinen Liebesgeschichte zwischen Paul und Susan eine Geschichte über das Leben als Ganzes, in der Liebe und Leben synonym sind und letztlich die «einzige Geschichte» ergeben, die wirklich zählt. Das Buch ist unerwartet und klug und furchtlos. Und es ist gekonnt erzählt: Jedem der drei Teile ist eine andere Erzählperspektive zugeordnet (vom «ich» zum fast schon anklagenden «du» zum distanzierten «er»). Wie nebenbei spiet Barnes so mit der Frage der Macht der Erinnerung und der Funktion des Erzählens (führt sie zur Wahrheit oder davon weg?). Bemerkenswert ist, dass sich das Buch nicht im Plot einer gesellschaftlich nicht gewollten Liebe erschöpft. Der von Paul und Susan provozierte Skandal trifft gar nicht ein. Das Umfeld arrangiert sich mit der Beziehung. Das ist lustig und traurig und das Buch letztlich nicht weniger als die schonungslose Geschichte einer grossen Liebe: Von Boy meets Girl zur Abhängigkeit zum Zerfall. Aber was für eine Geschichte! Nur aussen skandalös, innen aber der ganz normale, berührende Wahnsinn.
Heinz
Contra
Originell denke ich beim Lesen – immer dann, wenn das Thema «Tennis» wieder auftaucht. Zum Beispiel das gemischte Doppel als der Anfang der Leidenschaft zwischen Susan und Marko Paul; die Tennisröckchen der Damen aller Altersklassen und die richtige Schlag- und Zähltechnik begleiten einen durch das ganze Buch, obwohl der Roman gerade dadurch besticht, sprachlich nicht wie beim Ballspiel kurzweilig hin- und herzuhüpfen, sondern mäandrierend dahin zu kriechen. Der Schriftsteller des Buches erinnert mich zuweilen an Martina Hingis, wie sie im French Open Final gegen Steffi Graf Ende des letzten Jahrtausends vor allem gegen sich selber verliert.Tennisspielen kann man nicht alleine, wie es auch für das Hauptthema des Buches meistens zwei oder mehrere braucht. Barnes aber fokussiert allzu sehr auf den Erzähler, schattiert ihn aus, zeigt seine Gefühle in aller Deutlichkeit und bleibt gleichzeitig ziemlich distanziert, kühl und emotionslos. Der Erzähler erzählt in drei Perspektiven zwar, aber der Ich-Erzähler bleibt immer an erster Stelle. Dies lässt bei aller Empathie von Marko Paul zu Susan keinen Zweifel: Ein ganz moderner Roman, wo man letztlich alleine bleibt, alleine in der Welt und einem nur diese einzige Geschichte gegeben sei, die einen nährt, zehren oder warten, hoffen und bangen lässt oder gar zerstören kann. Denn so ist es in der Liebe dann doch nicht ganz, auch wenn Barnes in seinem etwas weinerlichen Art es uns glauben lässt: Im Tennis gehen nie zwei Sieger vom Platz.
Markus