Kent Haruf - Abendrot
Titel: Abendrot
Autorin: Kent Haruf
Geburtsjahr: 1943
Verlag: Diogenes
Seiten: 414
Übersetzt von: pociao
Erscheinungsjahr: 2004/2019
In seinem Werk von 2004 nimmt uns Kent Haruf in verschiedenen Episoden mit ins Herzen von Colorado, nach Holt. Die Geschichten drehen sich um die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, die eingefleischte Fans bereits aus anderen Büchern des Autors kennen. Die Episoden verbinden sich zu den Leben der McPheron-Brüder, die mit ihrem Findelkind und deren Tochter auf einer Farm leben und lebten. Doch das ist nur ein Erzählstrang. Wir treffen auch ein Ehepaar, das in der Trailersiedlung mit Geldsorgen kämpft und einen Jungen, der sich um seinen Grossvater kümmert. Mit fortschreitender Lektüre verweben sich die Geschichten der Hauptpersonen und ihrer Mitmenschen miteinander und bilden schliesslich ein enges Beziehungsnetz, das spannende Einblicke in eine US-amerikanische Kleinstadt bietet.
Pro
Vieles kommt in diesem Buch zusammen: Bescheidenheit, Demut vor dem Leben, Witz zwar selten, vor allem aber Glück. Glück des Lesers und der Leserin, die sich in den Geschichten wiederfinden oder sich von den Figuren distanzieren möchten. Eines aber lässt Harufs Buch uns bestimmt nicht: kalt. Es legt den Fokus auf die Kleinstadt, auf das Leben der Farmer, das Niemandsland, nicht auf die Ghettos der Armen oder die Monotonie der Grossstadt und landet somit dort, wo alles real erscheint. Man mag die Zufälligkeiten der Begegnungen arg gestellt finden, dafür entschädigt der Fluss der Dialoge, zum Beispiel, wenn der alte Raymond nach dem Tod seines Bruders im Abwaschgespräch mit Pflegetochter Katie seine Einsamkeit offenbart. Und klar, auch bei Haruf kommen alle coolen Menschen aus Denver, Colorado. So viel Vorhersehbarkeit muss sein.
Das Buch zeigt für mich nicht die Notwendigkeit einer irgendwie zu füllenden Freundlichkeit der Einwohner untereinander. Die Gesellschaft in Holt ist nämlich nichts anderes als grausam, das Buch erwandert geradezu das Ende einer Gesellschaft. Aber es liess mich erkennen, dass zwischen dem einen und dem anderen Ende des Menschendaseins – wo die Zeit ohnehin zu knapp bemessen ist, wie auch der frühe Tod dieses talentierten Autors zeigt – kein Platz ist für die Furcht des wohlbehüteten Lesers vor dem abstrakt Schlimmen. Es bleibt uns nur, aber immerhin, die gute Erinnerung an oder die Furcht vor – je nach Erfahrung – dieser nächsten und gleichzeitig weit entfernten Kultur. Um es mit Harufs Figuren zu zeigen: Sie essen Eiscrème mit Weissbrot zum Nachtisch.Markus
Contra
Haruf beschreibt eine stereotypische Kleinstadt in Nordamerika, in welcher durchschnittliche Menschen ein durchschnittliches Leben führen. Wir erfahren etwas über den Alltag eines sozialrandständigen Ehepaars mit einem gewalttägigen Onkel, eines vereinsamten Rancher-Brüderpaars, eines Waisens und einer alkoholkranken Mutter. So, what’s new? Haben wir diese Geschichten nicht schon alle in tausendfacher Ausführung gelesen? Es ist, als wenn man amerikanisches Big Brother schauen würden. Es fehlt der Einblick in eine Gesellschaft, in welcher es verschiedene soziale Schichten gibt. Keine einzige Perspektive beleuchtet die Wohlhabenden und ihren Einfluss auf den Ottonormalverbraucher. Auch diese wird es in einer nordamerikanischen Kleinstadt wohl geben.
Leider schafft es auch Haruf nicht, eine neue Perspektive, eine neue Ebene in der Erzählung solcher Kleinstadtgeschichten zu entwickeln. Die einzelnen Erzählstränge dümpeln vor sich hin und enden genauso unspektakulär, wie sie begonnen haben. Nach der Lektüre schliesst man das Buch und es bleibt: nichts.Wibke