Saša Stanišić - Herkunft
Titel: Herkunft
Autor: Saša Stanišić
Geburtsjahr: 1978 in Višegrad (ehem. Jugoslawien)Verlag: Luchterhand
Seiten: 360
In seinem aktuellen Werk beleuchtet Saša Stanišić – der Titel verrät es – seine eigene Herkunft. Dies tut er in verschiedensten Facetten in einer einzigartigen Form: Reportageartige Schilderungen von Besuchen bei seiner Grossmutter wechseln sich mit biografischen Rückblicken, persönlichen Gedanken und Fantasy-Einsprengseln ab. Dabei erfährt man nicht nur sehr viel aus dem Leben des Autors, sondern wird auch zum Nachdenken über die Herkunft an sich angeregt. Dies alles macht das Buch zu einem einzigartigen Leseerlebnis, das den Deutschen Buchpreis 2019 gewonnen hat.
Pro
«Die Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, sind quasi unendlich», heisst es irgendwo im Buch. Der Satz ist Programm und Stanisic testet ganz schön viele Möglichkeiten aus. Der Erzählton ist manchmal der eines Märchens, manchmal der einer Chronik und manchmal der einer biografischen Selbstbefragung. Das Ende löst sich auf in einem Labyrinth, in dem der Leser selbst über die Abzweigungen entscheidet – wie in den Rollenspielen, die der Autor in seiner Jugend spielte. Doch nicht nur das Ende ist verschlungenes Spiel. Man kann das Buch aufschlagen, wo man will, gleich trifft man auf funkelnde Sätze, die Stoff bieten für mehr als nur eine begeisterte Rezension: «Herkunft sind die süss-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben», heisst es gerade hier, «Ich bin ein höflicher Mensch. Ich möchte nicht, dass sich jemand unwohl fühlt, nur weil ich kein Tscheche bin.» gerade da.
In Hamburg hocken und Eichendorff zitieren und sich Fachwissen über Singvögel aneignen, das entlockt Stanisic Seufzer des Glücks. Doch geht es ihm, wie es sich für Literatur gehört, um die grossen Dinge, um die erste Liebe und den Krieg und die Familie und die Erzählbarkeit von Geschichten. Und alles kreist um die geliebte Grossmutter in Bosnien, die dement und dementer wird und zusehends die zeitlichen Ebenen durcheinanderbringt und vergisst, wo sich Stanisic selbst doch erinnern will, ganz genau und notfalls mit Übertreibungen und Erfindungen. Der Autor schweift ab und aus, setzt die Geschichte, seine Geschichte, nämlich die seiner Herkunft aus schimmernden Details zusammen. In Stanisics Welt stehen Computerspiele auf der gleichen Ebene wie die Gebrüder Grimm, der Romantiker Eichendorff trifft auf den Machtpolitiker Tito und amerikanische Wrestling-Heroen wie The Undertaker auf deutsche Fussballikonen wie Lothar Matthäus.
Stanisic hätte guten Grund gehabt, ein anklagendes Buch zu schreiben über sozialen Statusverlust und Ressentiments gegen Immigranten und die Ausweisung seiner Eltern aus Deutschland. Doch Eichendorff und die Gebrüder Grimm und die Drachen (Geschichten!) sind dann doch stärker als die Wut. «Selbstbewusstsein gegen Fremdbestimmung (auch in der Sprache)» schreibt Stanisic, der sich die deutsche Sprache als Jugendlicher mühsam aneignen musste. Der Autor nimmt sich und seine Geschichte ernst, aber nicht zu wichtig – und schon gar nicht als Anlass für irgendwas. Denn eigentlich ist ja alles erzählenswert, man braucht nur genau hinzusehen – und ein bisschen Phantasie. Und darin liegt das Grossartige an diesem Buch.
Heinz